Flugtaxis – Die wichtigsten User-Experience-Herausforderungen für Lilium
Die Lebensqualität von Millionen Pendlern und Reisenden wird täglich durch verstopfte Straßen und lange Fahrzeiten beeinträchtigt. Das Pendeln per Flugtaxi hat daher enormes Potenzial und derzeit positionieren sich mit Lilium, Opener, Uber, Cora, Volocopter, Airbus, Ehang, Boeing und Dufour mehrere Unternehmen, um diesen Markt in Zukunft zu dominieren.
Das schlüssigste Flugzeugkonzept entwickelt Lilium mit einem leisen, senkrechtstartenden Jet. Lilium hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Flugzeugbauer, sondern auch Mobilitätsdienstleister bis 2025 zu sein. Um diese Vision zu realisieren, muss zusätzlich zur technisch getriebenen Flugzeug- und Infrastrukturentwicklung vor allem eine holistische User-Experience entwickelt werden. Ein schicker und technisch ausgefeilter Jet reicht allein nicht aus, um konkurrenzfähig zu sein. Für Lilium sehe ich ganz konkret folgende Herausforderungen.
1. Komplexe Kundenbedürfnisse managen
1.1 Realität ist komplexer als eine Pitchkalkulation
Lilium vergleicht Flugtaxis mit konventionellen Taxis anhand von Reisezeiten und Fahrtkosten. Auf den ersten Blick beeindruckt das Flugtaxi durch Geschwindigkeit in Kombination mit günstigen Reisekosten. Da Start- und Endpunkte von Reisen allerdings selten Landeplätze sind, müssen zusätzliche Reisezeiten und Kosten für die Fahrt zum Endziel eingerechnet werden. Aufgrund des wegfallenden Umstiegs in andere Verkehrsmittel gewinnt somit die konventionelle Taxifahrt an Komfort und Geschwindigkeit.
1.2 Komfortable Reiseplanung ist essenzieller Mobilitätsservice
Der Planungsaufwand einer Reise reicht vom einfachen Pendeln zwischen zwei Gebäuden mit Landeplätzen bis zur Interkontinentalreise mit verschiedensten Verkehrsmitteln im Verbund. Ein Pendler, der täglich die gleiche Strecke fliegt, hat andere Erwartungen und Bedürfnisse als ein Reisender in einer fremden Stadt. Hier benötigt es den richtigen Spagat zwischen schnellem Buchen und einem eingebetteten Service für eine Gesamtstrecke. Falls der Reisende nicht ortskundig ist, muss ihm der schnellste, bequemste und günstigste Weg zum Startplatz des Jets angeboten werden. Im Idealfall ist die Buchung und Navigation zum Start- und Endpunkt im Flugpreis enthalten.
1.3 Preisakzeptanz variiert von Passagier zu Passagier
Jeder Reisende hat eine individuelle Balance zwischen Preis, Zeit und Aufwand. Preissensitive Fluggäste warten eventuell auf Mitreisende und tolerieren Zwischenstopps. Andere Passagiere möchten hingegen schnellstmöglich von A nach B. Die Kunst besteht darin, für einen Großteil der Pendler attraktive Lösungen zu gestalten und dadurch konkurrenzfähig zu Taxi, Bus oder Bahn zu sein.
1.4 Gepäck sollte kein Ballast sein
Wer sich auf dem Weg zum Flughafen ein Uber bestellt, weiß, dass zwei große Koffer im Auto ohne Aufpreis Platz finden. In einem Flugtaxi ist der verfügbare Platz und das zu transportierende Gewicht beschränkt. Steigende Preise durch Zusatzbuchungen oder Limitierungen rauben dem Flugtaxi die Attraktivität und bringen weitere Komplexität in den Buchungsprozess.
1.5 Verlässlicher Dienstleister bei jedem Wetter
Inwiefern der Flugbetrieb auch bei Schneesturm oder Nebel möglich ist, wird sich noch herausstellen. Im Falle von Flugausfällen sollte dem Passagier unbürokratisch eine Alternative aufgezeigt werden.
2. Integration von Landeplätzen in den Mobilitätsservice
2.1 Guter Service mit wenig Personal
Je dichter das Netz an Landeplätzen, desto attraktiver wird die Nutzung von Flugtaxis. Servicepersonal auf jedem Landeplatz wäre wünschenswert, ist aber aus Kostengründen unrealistisch. Die Interaktion mit Passagieren für Anweisungen, Hilfestellungen und Sicherheit muss daher durch Mensch-Maschine-Interaktion erfolgen. Hierfür benötigt es ausgefeilte Konzepte. Die Anforderungen werden in Zukunft durch autonome Flugzeuge weiter steigen.
2.2 Tageszeitunabhängige Mobilitätslösung
Taxis sind vor allem nachts gefragt, wenn öffentliche Verkehrsmittel nicht fahren. Ein Großteil der Landeplätze für Flugtaxis wird sich auf Gebäudedächern befinden, die nachts und am Wochenende nur schwer zugänglich sind. Hier gilt es, dem Passagier auch in diesen Zeiten Zugang zum Gebäude zu ermöglichen, denn ohne Infrastruktur sind Flugtaxis nicht nutzbar.
2.3 Ländergrenzen sollten nicht die Mobilität begrenzen
Lilium wirbt mit Flügen von London nach Paris in einer Stunde. 2020 ist Großbritannien nicht mehr Teil der EU und die Einreise ist daher mit Visakontrollen verbunden. Länderübergreifende Flüge mit Visakontrollen sollten möglich sein, ohne dass jeder Landeplatz aufwändig mit Zollinfrastruktur ausgestattet wird.
2.4 Rushhour auf dem Landeplatz
Nach der Landung eines A380 möchte ein Großteil der 853 Passagiere schnellstmöglich vom Flughafen per Flugtaxi in die Stadt. Die Passagiere buchen zeitgleich nach der Landung Flugtaxis für unterschiedliche Ziele. Hieraus ergeben sich einige Herausforderungen: Wie werden die Warteschlangen organisiert, damit die Passagiere nicht auf dem Landeplatz umherirren? Wer hat welches Flugtaxi gebucht und wie wird auf Verzögerungen einzelner Passagiere reagiert, wenn andere in der Schlange schon warten? Zudem stellt sich die Frage nach dem Landeplatzmanagement. Wie reihen sich an überfüllten Landeplätzen die in der Luft wartenden Flugtaxis ein, um den nächsten Landeplatz zu ergattern? Dürfen in solchen Situationen Flugzeugakkus zeitaufwändig geladen werden oder darf der Landeplatz nur mit vollen Akkus angeflogen werden?
2.5 Lademanagement ist mehr als ein Stromanschluss
Eine reine Ladeinfrastruktur ist nicht zielführend. Vielmehr bedarf es eines ausgeklügelten Lademanagements. Nicht alle Landeplätze verfügen über Stromanschlüsse oder werden exklusiv von Lilium-Jets genutzt. Das Aufstromen und die Abrechnung des Stroms müssen unkompliziert möglich sein. Zudem hat das Lademanagement fester Bestandteil des Tourmanagements zu sein, denn welcher Jet wann und wo aufgestromt wird, muss effizient gesteuert werden.
2.6 Indoornavigation bis zum Sitzplatz
In einem unbekannten Gebäudekomplex bis zum Landeplatz auf dem Dach zu gelangen, birgt Probleme für potenzielle Fluggäste. Hierfür ist ein ausgefeiltes Orientierungs- und Navigationskonzept nötig. Es beginnt mit dem Finden des richtigen Gebäudeeingangs und endet im Flugtaxi auf dem korrekten Sitzplatz. Weitere Fragen sind, ob der Passagier den Wartebereich verlässt, sobald das Flugtaxi im Anflug ist, oder erst nach der Landung. Zudem muss konzipiert werden, wie der Passagier seinen Jet unter mehreren auf dem Landeplatz zielgenau erkennen kann. Die Herausforderungen bei der Navigation von der Straße zum Jet auf dem Dach müssen gering gehalten werden, damit die Attraktivität des Services nicht leidet.
2.7 Sicherheitsrelevante Maßnahmen
Sicherheitskontrollen sind ein gravierendes Firmenrisiko, denn sie sind personalintensiv, kostspielig und für die Passagiere vor allem zeitraubend. Welche Maßnahmen in welcher Region nötig sind, ist schwer kalkulierbar und kann sich nach Anschlägen auch schnell ändern. Grundsätzlich gilt, dass Sicherheitsmaßnahmen die User-Experience negativ beeinflussen. Im schlechtesten Fall kann nicht von allen Plätzen gestartet werden, da die nötige Infrastruktur für Sicherheitskontrollen fehlt.
2.8 Ohne ökonomischen Mehrwert entstehen keine öffentlichen Landeplätze
Ohne ein flächendeckendes Netz an Lande- und Startmöglichkeiten sind Flugtaxis unattraktiv. Der bisherige Plan sieht vor, dass Lilium wenige Landeplätze selbst betreibt und um diese herum private Immobilieninvestoren weitere Landeplätze bauen, um damit die Attraktivität ihrer Immobilien zu erhöhen. Diese Idee steckt allerdings voller Konflikte: Firmen wie Siemens haben zwar das Bedürfnis, ihren Mitarbeitern Zugang zu Flugtaxis zu gewähren, werden aber sicherlich öffentliche Landeplätze verhindern, damit nicht jeder Zutritt auf das Firmengelände übers Dach erhält. Der Anreiz, Landeplätze zu bauen, dient daher überwiegend privaten Interessen. Dadurch entsteht zwar ein breites Netz an Landeplätzen, diese sind allerdings der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
3. Individuelle Werkzeuge für einen effizienten Service
3.1 Ein guter Service ist persönlich
Im Idealfall erhält der Pilot über das Interface im Cockpit die Informationen zu seinen Passagieren und übernimmt das ein- und auschecken. Wichtige Informationen sind Reiseziel, Namen der anwesenden Passagiere, Gepäck und etwaige Verzögerungszeiten von fehlenden Passagieren.
3.2 Dezentral agierende Mitarbeiter müssen optimal organisiert und geplant werden
Vom Reinigungs- bis zum Servicepersonal haben Mitarbeiter Rechte und Pflichten, die gewährleistet werden müssen. Ein Pilot hat zum Beispiel die Pflicht, um 05:30 Uhr mit dem Jet XY vom Landeplatz XY seine Schicht zu starten. Nun muss von Lilium gewährleistet werden, dass dem Pilot ein Jet in der Nähe seines Wohnortes zugewiesen wird und der Zugang zum Gebäude sowie zum Jet möglich ist. Der Pilot muss den ihm zugewiesenen Jet nicht nur aufschließen, sondern sich authentifizieren, den Jet starten und Instruktionen zum ersten Flug inklusive Ladeanweisungen bekommen.
3.3 Interfaces im Jet sind essenziell
Die Navigation mit einem On-Demand-Flugtaxi stellt neue Bedürfnisse an ein Cockpit. Dem Pilot müssen einfach die Flugroute sowie die Tank- und Zwischenstopps visualisiert werden. Unwägbarkeiten wie besetzte Landeplätze und fehlende Ladeinfrastruktur müss kommuniziert werden. Fällt der Pilot durch Autonomisierung weg, dann ist dies vor allem aus Kostengründen attraktiv, aber die Schwierigkeiten in der Kommunikation mit den Passagieren nehmen zu und müssen über Interfaces in und am Jet gelöst werden.
4. Plattform zum Organisieren, Analysieren und Editieren der Daten
4.1 Überwachung von Flugzeugen und deren Status
Wo welches Flugzeug mit welcher Besatzung unterwegs ist, muss überwacht werden. Zudem muss der genaue Status rückgemeldet werden. Dieser enthält unter anderem Flugzeugdaten wie verbleibende Reichweite und den technischen Zustand einzelner Komponenten. Zusätzlich muss die Flugzeughistorie über eine Applikation abrufbar sein. Es sollte zum Beispiel genau dokumentiert werden, von wem welche Wartungen vorgenommen wurden.
4.2 Nutzer- und Rechtemanagement
Nutzer sind Kunden und Personal gleichermaßen und jeder hat seiner Rolle entsprechend ortsbezogene Rechte. Diese sind vielfältig und können vom Öffnen der Flugzeugtür bis zum Editieren von Daten reichen.
4.3 Einsatz- und Arbeitspläne für Personal
Einsatzpläne und Aufgaben sollten digital übermittelt und abgestimmt werden. An den Plänen hängen wiederum zeitlich begrenzte Rechte. Da ein Großteil des Personals dezentral eingesetzt wird und die Aufgaben individuell verteilt und beurteilt werden, sollte diese von Algorithmen erledigt werden.
4.4 Reinigung und Wartung
Aufgaben sind oft objektorientiert und da die Flugroute eines On-Demand-Fliegers nicht vorhersehbar ist, müssen diese flexibel, je nach Aufenthaltsort, neu zugewiesen werden.
4.5 Systempflege und Konfiguration
Jeder Flieger muss konfiguriert und in das System eingepflegt werden. Alte Flugzeuge müssen mit Softwareupdates auf den aktuellen Stand gebracht werden. Dies und vieles mehr sollte die Plattform leisten.
4.6 Datenanalyse
Dies lässt die richtigen Schlussfolgerungen zu und ist daher essenzieller Teil der Plattform. Hierfür benötigt es aussagekräftige Datenvisualisierungen, welche durch das Setzten von Filtern Nutzerverhalten und Verbesserungspotenzial aufzeigen. Insbesondere für Entscheidungsträger ist dies ein wertvolles Werkzeug zur Weiterentwicklung von Jets und den dazugehörigen Dienstleistungen.
Fazit:
Je mehr Bedürfnisse Lilium von Kunden und Mitarbeitern abdeckt, desto wirkungsvoller gelingt der Markteintritt. Hierfür muss sich Lilium vom Flugzeugentwickler zum Mobilitätsdienstleister weiterentwickeln. Reisen per Flugtaxi finden im Normalfall im Verbund mit anderen Verkehrsmitteln statt, daher muss die Mobilitätsdiensleistung holistisch betrachtet und für jegliches Nutzerszenario eine einfache Lösung angeboten werden.